Beitrag von Inge Rosenberger zur Podiumsdiskussion beim Werkstättentag am 14. Mai 2013 in Würzburg
Frage: Was sind Ihre Erfahrungen, Anliegen und Forderungen in Bezug auf berufliche Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung?
Meine Tochter ist 29 Jahre, wohnt noch bei uns zu Hause und kann keine „wirtschaftlich verwertbare Arbeit“ in dem Sinne leisten, dass sie in eine Werkstatt aufgenommen wird. Das sind die Rahmenbedingungen in Bayern. In Nordrhein-Westfalen würde meine Tochter in eine Werkstatt aufgenommen werden.
Annika geht deshalb seit fast zehn Jahren in eine Tagesförderstätte, deren Mitarbeiter mit sehr großem Engagement tätig sind. Wir alle bemühen uns gemeinsam, Annika ein altersgemäßes und möglichst normales Leben zu ermöglichen.
Meine ganzen bisherigen Erfahrungen gehen allerdings dahin, dass – im Widerspruch zu den Leitgedanken der Inklusion – Menschen mit hohem Hilfe- und Betreuungsbedarf immer weiter ausgegrenzt werden. Der Unterschied zwischen dem propagierten politischen Anspruch und dem wirklichen Leben von Menschen mit schwersten Behinderungen ist enorm und wird immer größer.
Beim Auszug aus dem Elternhaus steigt die Gefahr einer erweiterten Ausgrenzung von Menschen mit schwersten Behinderungen dann rapide an: Und zwar die Ausgrenzung aus der Gruppe der behinderten Menschen, die „werkstattfähig“ genannt werden.
Denn im Gegensatz zum Rechtsanspruch auf einen Platz in der Werkstatt ist die Beschäftigung in einer Tagesförderstätte nur durch eine „Soll“-Bestimmung geregelt.
In vielen Regionen wird das Zwei-Milieu-Prinzip – in dem Wohngruppe und Arbeitsplatz räumlich und personell getrennt sind – deshalb durch interne Tagesstrukturen ersetzt. In Bayern wird das Zwei-Milieu-Prinzip zwar klar vom Sozialministerium befürwortet, wofür wir sehr dankbar sind. Trotzdem mussten wir Eltern für eine entsprechende Umsetzung in Unterfranken jahrelang ringen.
Weiterhin hat die Trennung bei der Arbeit bzw. Beschäftigung auch eine Auswirkung auf den Wohnort. Denn auch in den Wohneinrichtungen wird nach der „Werkstattfähigkeit“ geteilt.
Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen wird durch diese Ausgrenzung die Normalisierung der Lebensbedingungen verweigert.
Sie haben keine Chance, gemeinsam mit weniger stark behinderten Menschen zusammen zu wohnen. Sie haben keine Chance, in einem vielfältigen und anregenden Umfeld Arbeit oder Beschäftigung zu bekommen.
Ich denke, wir alle möchten nicht nach unserer Arbeitsleistung in eine bestimmte homogene Gruppe von Menschen einsortiert werden. Und niemand von uns möchte, wenn wir nicht oder nicht mehr arbeiten könnten, rund um die Uhr ausschließlich mit nicht arbeitsfähigen Menschen zusammen sein. Wie soll eine Gemeinschaft da auch funktionieren?
Wir wissen doch alle, wie zufrieden es macht, regelmäßig ‚rauszukommen und gemeinsam mit anderen Menschen etwas Sinnvolles, etwas Kreatives zu machen, etwas das Freude macht.
Meiner Tochter geht das genau so. Aber leider werden ihre gesamten Lebensbedingungen ausschließlich an der wirtschaftlichen Verwertbarkeit ihrer Fähigkeiten festgemacht. Als Mutter einer schwerstbehinderten Tochter empfinde ich eine solche Sortierung nach der Nützlichkeit als eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Welche Lebensbedingungen würden wir eigentlich für uns selbst bevorzugen, wenn wir so stark auf Unterstützung angewiesen wären?
Ich gehe davon aus, dass wir alle doch gar nichts Besonderes wollen. Wir alle brauchen keine außergewöhnlichen Lebensbedingungen.
Wir wollen einen möglichst normalen Tages- und Wochenablauf in einer aktivierenden Umgebung erleben.
Wir wollen dabei sein, wir brauchen Anregungen und gegenseitige Unterstützung. Beim Wohnen, in der Freizeit und bei der werktäglichen Arbeit.
Auch für Menschen mit schwersten Behinderungen müssen sich die Lebensbedingungen normalisieren.
Deshalb muss das Recht auf eine Teilhabe am Arbeitsleben endlich für alle Menschen mit Behinderung ermöglicht werden. Es muss auch die Wahlmöglichkeit bestehen, ob sie dieses Recht in einer Werkstatt oder einer Förderstätte wahrnehmen. Auch wenn Menschen einen hohen Unterstützungsbedarf haben, müssen sie die Chance haben, arbeiten zu können, eine Beschäftigung zu bekommen – außerhalb der Wohnstrukturen.
Meine Tochter wird demnächst 30 Jahre. Eigentlich höchste Zeit für den Auszug aus dem Elternhaus. Eigentlich…
Aber sie gilt ja als nicht „werkstattfähig“. Und deshalb hat sie bei uns keine Wahlmöglichkeiten. Weder beim Wohnen noch bei der Förderstätte.
Ich möchte meiner Tochter, dass sie in eine kleine, bunt gemischte Wohngemeinschaft ziehen kann. Und ich möchte, dass sie ihre bisherige Förderstätte weiter besuchen kann.
Es darf nicht sein, dass diese Normalität für meine Tochter ein Wunschtraum bleibt, denn sie hat ein Recht auf Teilhabe in allen Bereichen!
Mein Appell an alle Teilnehmer: bitte unterstützen Sie Menschen mit Behinderung und ihre Familien jetzt beim Aufbau neuer Lebensmodelle.
Und meine ganz besondere Bitte an die Verantwortlichen: Die aktuell sehr starren Strukturen bei den Wohn- und Arbeitsangeboten müssen durch vielfältige Angebote und flexible Lösungen ersetzt werden.