Seit mehr als 12 Jahren sind Alternativen zur herkömmlichen Heimunterbringung ein Thema in Unterfranken. Im Jahr 2012 wurde die IG-Inklusives Wohnen gegründet, die sich seit genau fünf Jahren für eine ambulant betreute Wohngruppe für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf einsetzt.

Wir alle hoffen sehr, dass nach einem Termin mit allen Entscheidungsträgern im Laufe der nächsten Tage und Wochen eine gute Perspektive für unser Projekt erkennbar wird.

 

„Alternative Wohnformen für Menschen mit Behinderung“

Referat von Inge Rosenberger im März 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

zuerst möchte ich mich bei Ihnen für die Einladung ganz herzlich bedanken.

Bitte erwarten Sie bei meinen Informationen zum Thema „alternative Wohnformen für Menschen mit Behinderung“ keine professionellen Aspekte. Ich bin hier lediglich als Mutter, die ihre Tochter kennt und die versucht, geeignete Wohnformen darzustellen, weil meine Tochter es selbst nicht verbalisieren kann. Was allerdings nicht heißt, dass sie ihre Wünsche nicht doch verständlich zum Ausdruck bringen könnte.
Meine Ansichten äußere ich hier also ausschließlich als Mutter, und zwar als Mutter, die durch die „unterfränkischen Verhältnisse“ in der Behindertenhilfe stark geprägt ist.

Vor ungefähr sieben Jahren habe ich angefangen, mich nach einem guten Wohnort für meine inzwischen fast 30-jährige Tochter umzusehen und musste fassungslos feststellen, wie sehr behinderte Menschen in Schubladen eingeteilt werden.

Da gibt es
a) Heime für die „Werkstattgänger“ und – räumlich und personell getrennt davon
b) Heime für Menschen, die nicht „werkstattfähig“ sind. Für diese Menschen ist ein zweiter Lebensbereich (also eine Tagesförderstätte) oft nicht vorhanden; und für viele Heimbewohner besteht ständig die Gefahr, dass die Beschäftigungszeiten in der Förderstätte auf weniger als vier Stunden gekürzt werden.
c) Und dann gibt es inzwischen auch noch spezielle Einrichtungen für behinderte Rentner – eine Art Altersheim, in das die Menschen umziehen müssen, sobald sie nicht mehr in die Werkstatt gehen.

Um es kurz und verständlich auszudrücken: behinderte Menschen werden ausschließlich nach ihrer Arbeitsfähigkeit (in der Werkstatt) beurteilt und den verschiedenen Schubladen mit den entsprechenden Hausmodellen zugewiesen.
Als Mutter einer schwerstbehinderten Tochter empfinde ich diese Sortierung nach der Nützlichkeit als zutiefst entwürdigend.
Wer kann eine solche Zuordnung nach dem Prinzip der Brauchbarkeit fachlich, rechtlich und ethisch überhaupt verantworten? Und dann gibt es auch noch etliche Träger, die das mitmachen, obwohl sie sich in ihren Konzeptionen auf das christliche Menschenbild berufen.
Versetzen Sie sich doch bitte in Gedanken mal in so eine Situation!
Möchten Sie so sortiert werden? Die Guten ins Töpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen?
Wie würden Sie sich fühlen, wenn durch Ihren Wohnort bestimmt wird, ob und wo Sie arbeiten dürfen?
Und wären Sie damit einverstanden, zwangsweise mit Ihren Arbeitskollegen zusammenzuwohnen?
Möchten Sie sofort in ein Altersheim ziehen, wenn Sie in Rente gehen?
Würde es Ihnen gefallen, wenn Ihr Lebenspartner Sie und die Wohnung verlassen muss, weil er in Altersrente geht?
Wie würde es Ihnen gehen, wenn Sie nicht oder nicht mehr arbeiten könnten, und deshalb an einen Ort ziehen müssen, an dem ausschließlich nicht arbeitsfähige Menschen wohnen?
Ein möglichst normaler Lebensablauf – wie dies nicht behinderte, gleichaltrige Menschen zu Recht für sich in Anspruch nehmen – ist auf diese Weise niemals möglich.

Ganz ehrlich: So möchte ich nicht den größten Teil meines Lebens verbringen, und ich kann mir das auch nicht für meine Tochter vorstellen. Und es braucht mir keiner zu erzählen, ein behinderter Mensch würde diese Aussortierung nicht wahrnehmen!
Ich bin der Überzeugung, dass auch niemand diese Einschränkungen für sich selbst akzeptieren würde. Warum also muten wir dies Menschen mit Behinderung zu? Unseren Töchtern und Söhnen?

Seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention ist das Schlagwort Inklusion weit verbreitet. Politiker, Sozialbehörden, Wohlfahrtsverbände und Einrichtungsträger halten wunderbare Sonntagsreden zur Inklusion und zur UN-Konvention.
Jeder nimmt natürlich für sich in Anspruch, diesen Begriff so auszulegen, wie er’s für richtig hält. Alle Nichtbetroffenen sind der festen Überzeugung, dass doch alles bestens läuft und die Bedingungen schon jetzt optimal sind. „Sind Sie doch zufrieden“ heißt es da und „Gehen Sie doch mal in die Ukraine und sehen Sie, wie es dort ist“.
Und gleichzeitig wird der Begriff „Inklusion“ immer häufiger instrumentalisiert, um bereits umgesetzte oder angestrebte Sparmaßnahmen schönzureden – Sparmaßnahmen, die dann auch dafür herhalten, beim Wohnen eine rigorose Aufteilung nach Art und Schwere der Behinderung zu bewirken. Manche Verantwortliche (!) sprechen dann sogar von Falschliegern, Systemsprengern und gar von Bodensatz!
Dadurch entsteht ein „Zwei-Klassen-System“, und die Gefahr der Ausgrenzung in homogenen „Rest-Einrichtungen“ steigt rapide an.

In der UN-Konvention ist festgelegt, dass Menschen mit Behinderung [Zitat] „gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“.
Eigentlich sollte die UN-Konvention auch für Menschen mit hohem Hilfe- und Betreuungsbedarf Akzeptanz und Gültigkeit besitzen. Eigentlich…

Aber nachdem die angebotenen Kostensätze im ambulanten Bereich für eine angemessene Betreuung von Menschen mit Mehrfachbehinderungen derzeit nicht ausreichen, werden kleine, heterogene Wohngemeinschaften mitten in der Gesellschaft für Menschen mit hohem Hilfe- oder Betreuungsbedarf in unserer Region nicht angeboten.
Und ich habe auch das Gefühl, dass eine Änderung und Wohnvielfalt gar nicht gewünscht ist.
Ich glaube, man will einfach in die Schubladen greifen, damit man vergleichen und zuordnen kann. Deshalb haben die Organisationen diese Wohnformen erst gar nicht ins Blick- und Planungsfeld genommen und einfach aussortiert.

Und was nun? Wie lange wollen wir dieser Ausgrenzung noch zusehen? Wie viele Sonntagsreden, leere Versprechungen, Appelle und Veranstaltungen wollen wir uns noch anhören? Und wie lange wollen wir noch über das reden, was eigentlich völlig normal sein sollte?
Wie lange noch … ohne dass sich etwas tut! Und ohne dass WIR etwas tun!?

Dabei wollen wir für unsere behinderten Töchter und Söhne doch gar nichts Besonderes. Wir wollen keine außergewöhnlichen Wohnformen. Wir wollen nur etwas erreichen, auf das wir alle niemals verzichten würden: etwas Normalität!
Wir wollen, dass unsere erwachsenen Töchter und Söhne, die derzeit kein bedarfsgerechtes Angebot vorfinden, nach dem Auszug aus dem Elternhaus mit der entsprechenden Unterstützung einen möglichst normalen Alltag erleben können. Das bedeutet nicht, dass behinderte Menschen „normalisiert“ werden, sondern dass ihr soziales Umfeld so gestaltet wird, damit sie möglichst normal am gesellschaftlichen Leben beteiligt sind.

Meines Erachtens wären Wohngemeinschaften gut geeignet, bei denen Eltern oder andere Angehörige der Bewohner von Anfang an ein Mitspracherecht haben.
Es gibt in unterschiedlichen Regionen Deutschlands schon jetzt Projekte, die auf eine starke Zusammenarbeit zwischen Fachleuten und Eltern aufbauen.

Es zeigt sich also: Es geht! Unsere Töchter und Söhne können – trotz erheblicher Beeinträchtigungen – fast genau so leben, wie die meisten von uns selbst leben wollen: bunt gemischt wie im richtigen Leben, also alt und jung, behindert und nicht behindert, leicht oder schwer behindert usw.
Das kann in einer WG sein, die in einem mehrstöckigen Wohnhaus mit mehreren Wohnungen ist , in einer großen Wohnanlage mit Familien oder in einem kleinen Haus in einem Wohngebiet.

Wenn das in anderen Bundesländern möglich sind, dann muss das auch hier möglich sein.
Um die Zukunft im Sinne meiner Tochter und anderer betroffenen jungen Menschen zu gestalten, will ich zusammen mit anderen Eltern – und unter der Mithilfe von kompetenten Menschen – die Gründung einer kleinen und heterogenen Wohngemeinschaft im Stadtgebiet von Aschaffenburg anstreben.

Dass dies gerade in Unterfranken nicht einfach sein wird, wurde mir bereits von vielen Seiten vermittelt. Vermutlich haben wir auch deshalb unter den Verbänden vor Ort noch keinen geeigneten Partner gefunden, der die Familien bei der Durchsetzung dieses „Pilot-Projektes“ gut und aktiv unterstützt.
Aber ich habe auch das Gefühl, es will niemand von seinem Konzept und seinem eingefahrenen Weg abgehen. Die Hindernisse werden als sehr groß und manchmal auch als zu groß angesehen.

Schwierig ist es vor allem, weil wir Eltern uns sehr stark einsetzen müssen, um das Persönliche Budget für unsere Töchter und Söhne einzufordern. Denn auch bei den von mir genannten Wohnprojekten konnten die Eltern das Persönliche Budget in den meisten Fällen erst mit juristischer Hilfe durchsetzen.

Natürlich ist das ein schwieriges Vorhaben, aber alle bisherigen positiven Veränderungen für Menschen mit Behinderung sind uns schließlich auch nicht in den Schoß gefallen, sondern nur durch Mut und hartnäckige Überzeugungsarbeit erreicht worden.

Ganz wichtig ist hier für mich das gemeinsame Vorgehen von allen Beteiligten, denn nur das wird sich positiv auswirken. Auf unsere Töchter und Söhne, auf uns Eltern und auf alle Menschen, die sich jetzt und später um unsere erwachsenen Kinder kümmern werden.